Die digitale Organisation in der Pandemie – Erfahrungsbericht

Ein Erfahrungsbericht. Wie wir Mitten in der Krise eine Organisation gründeten, ohne uns jemals gesehen zu haben.

Ein Gastbeitrag von Felicitas Heger.

Die Pandemie stellt uns seit nunmehr über einem Jahr vor viele Herausforderungen. Wir mussten uns innerhalb kürzester Zeit auf Neuerungen in der Kommunikation und in der Teamzusammenarbeit mit besonderen Umgangsformen einstellen. Wir machten Erfahrungen mit den Pros und Kontras dieser neuen, meist auf Zoom stattfindenden Teamarbeit. Was sind unsere Learnings aus diesem Jahr? Auf welche 5 Säulen müssen wir im Aufbau und in der Entwicklung einer digitalen Organisation nun setzen? 

Im November 2020 gründete ich mit ein paar Visionär*innen und Enthusiast*innen ein neues Netzwerk rund um das Thema Nachhaltigkeit. Wir lernten uns alle bereits online bei einer Weiterbildung zum Umwelt- und Nachhaltigkeitsmanager kennen. Wir stellten auch online fest, dass wir alle an einen systemischen und nachhaltigen Denkansatz glauben, um die Herausforderungen unserer Zeit angehen zu können. Mit diesem uns verbindenden Ziel waren die Richtung des Netzwerks bzw. der Organisationsgründung sowie der Name “Systaimability” (System + Aim + Sustainability) schnell gefunden. Heute sind wir um die Erfahrungen von bisher zwei online organisierten Meetups mit unzähligen, vorangegangenen Zoom-Calls, Slack-Gruppen-Diskussionen, kreativen Canva-Vorlagen für Social Media-Posts und Präsentationen sowie einem prall gefüllten Google Dokumentenordner reicher. Wir haben Teilnehmende aus der ganzen Welt mit großartigen Speaker*innen, die wir ebenfalls nur digital angefragt und kennenlernen durften, erreicht. 

Unsere Learnings für euch

Was waren nun aber bislang unsere Learnings aus der digitalen Zusammenarbeit? Und wie kann ich diese für eure eigene Arbeit im Team auf dem Weg zu einer digitalen Organisation einordnen? Welche 5 Säulen sind besonders wichtig?

Dies ist also der Versuch, euch einen Wegweiser durch die fünf häufigsten Annahmen im digitalen Raum und meine daraus resultierenden Einschätzungen zu geben. Daraus leite ich euch 5 Säulen für eine erfolgreiche online Zusammenarbeit ab.

1. Säule: Freie Arbeitszeiteinteilung und Verständnis für die jeweilige Situation der einzelnen Teammitglieder

Die meiste Zeit unserer Arbeit verbringen wir während der Pandemie nicht an einem Arbeitsplatz, sondern zuhause. Das ist nichts Neues! Was sich aber grundsätzlich dadurch verändert hat, ist unsere strikte Trennung von Arbeit und Freizeit. Dies kann negative Konsequenzen haben, dass etwa die Trennlinie zwischen der Bewältigung des Arbeitspensums und der bewussten Herausnahme von entspannten freien Zeiten verschwimmt. Schlimmstenfalls kann das zu schwerwiegenden psychischen Problemen sowie Erkrankungen führen. 

Die positiven Konsequenzen aus dieser Art der Arbeitsgestaltung sehe ich in der individuellen Gestaltung der Zeitplanung eines jeden einzelnen. Das bedeutet, dass man sich nach der eigenen inneren Uhr und dem, großteils familiären Alltag, richten kann. Also sich nicht an die starre analoge Struktur von “9 to 5” halten zu müssen. 

Was bedeutet diese neue Form des Zusammenarbeitens für uns als Team?

In meinem letzten Artikel “Stärkung von diversen und weiblichen Teammitgliedern” hier auf dem Blog habe ich über eine der wichtigsten Zutaten für das erfolgreiche Zusammenwirken von Teams geschrieben. Die Rede ist von “Wertschätzung”. Ohne ein gewisses Maß an gegenseitigem Verständnis für die jeweilige persönliche Situation einzelner Teammitglieder, kann ein Zusammenarbeiten im digitalen Raum nicht funktionieren. 

Das große Problem und die größte Finte, der wir aufsitzen können, ist, zu glauben, nur weil wir digital miteinander vernetzt sind, muss der oder die andere immer und zu jeder Zeit erreichbar sein. Das funktioniert nicht! Tritt diese Überlastung und ungesteuerte Informationsflut ein, schwindet die Motivation und das gesamte Projekt läuft Gefahr, zu scheitern. 

Die bessere Strategie ist also, die einzelnen, individuellen Bedürfnislagen ohne Wertung, vor allem ohne Abwertung, aufzunehmen. Die Aufgabenverteilung sollte nach dem Arbeitspensum jedes einzelnen aufgeteilt werden. Natürlich sollte auch hier ein gegenseitiges Commitment und Vertrauen herrschen.

Wir können diese Form der Teamzusammenarbeit als eine “Du bist ok, ich bin ok”-Haltung aus der Transaktionsanalyse beschreiben. Diese beruht auf einer gegenseitigen Wertschätzung, Anerkennung für die jeweilige Situation des Gegenüber und Vertrauen. 

Bei Systaimability haben wir diese Haltung von Anfang an gelebt, sind damit in Einzelfällen nicht weitergekommen oder sogar enttäuscht worden. Wir haben aus unseren Erfahrungen gelernt, noch transparenter zu kommunizieren und diese innere Haltung im Team als eine wichtige erste Säule des Organisationsaufbaus zu erkennen. 

2. Säule: Timeboxing bei Online-Meetings und Calls einhalten

Diese Haltung gilt auch bei der Gestaltung von Online-Meetings oder kürzeren Besprechungen (Calls). Wer hier nicht lernt, die avisierten und geplanten Zeitfenster seiner Teammitglieder zu wertschätzen und sich an die Absprachen hält, wird bald nur noch unmotivierte und unproduktive Kolleg*innen vor dem Bildschirm haben, die nur noch mit einem Ohr bei deinen so wichtigen Planungsentwürfen für das Projekt zuhören. 

An dieser wichtigen Säule des Strukturaufbaus für eine digitale Organisation arbeiten wir als Systaimability gerade sehr hart. Nun ist es natürlich auch so, dass wir uns auch persönlich gut verstehen. Gewöhnlich begannen unsere Calls immer erst einmal mit einem Plausch und einem persönlichen Austausch. Diese Form der Zeitverzögerung kennt ihr sicher alle und wenn es dann zu den wirklich wichtigen und relevanten Themen für das Projekt kommt, sind alle müde oder mit ihren Gedanken schon im nächsten Call. 

Wir müssen uns also bewusst machen, dass es auch eine Form der gegenseitigen Wertschätzung ist, sich an vereinbarte Zeiten zu halten und in der vorgegebenen Zeit alle wichtigen Punkte zu besprechen, um nicht zum unorganisierten Zeiträuber für jede*n zu werden. Wir haben hierfür jemanden im Team bestimmt, der das Timeboxing überwacht und uns ermahnt, wenn wir in vorerst Belangloses abdriften. Was soll ich sagen, natürlich gelingt das nicht immer, aber es wird besser! 

3. Säule: Geplante Calls für den persönlichen Austausch in der Organisation

Direkt anschließend an Säule 2 und nicht minder wichtig für den Aufbau eines stabilen Teamfundaments, ist es, neben “getimeboxten” Arbeitscalls natürlich auch Räume für den persönlichen Austausch und das Teambuilding einzurichten.  

Denn nur weil wir uns im digitalen Raum befinden, heißt das nicht, uns als Menschen nicht wahrnehmen zu dürfen. Wenn wir das missachten und zu leichtfertig damit umgehen, können sich auch Säule 1 und 2 nicht positiv entwickeln. Wenn wir es nicht schaffen, einen Raum für Persönliches und freies Denken einzurichten, wird kein Verständnis füreinander entstehen und somit leidet auch hier wieder die Wertschätzung und die daraus resultierende Motivation für das gemeinsame Projekt. 

Wie können diese digitalen Räume mit Leben gefüllt werden? 

Beispielsweise könntet ihr Euch einmal im Monat abends zu einem “Visionstalk” mit einem Glas Wein vor dem Bildschirm treffen. Ganz ungezwungen und ohne Zeitdruck. Jede*r darf von seinen Gedanken und persönlichen Anekdoten erzählen. 

Vor unserer Gründung und unserer Zusammenarbeit bei Systaimability hatte unser Teammitglied Luci eine großartige Idee. Sie lud uns alle zu einem online Kochabend ein und verschickte im Vorneherein die Einkaufsliste. Der Abend mit Wein und Ofengemüse wurde sehr heiter.  

Momentan sind wir eher bei dem Modell ein alle zwei bis drei Wochen stattfindenden “Visionstalk” abzuhalten. Auch hier besteht sicher noch Verbesserungsbedarf, aber wir sind auf einem guten Weg. Unsere dritte Säule für einen digitalen Organisationsaufbau nimmt mehr und mehr Form an. 

Es gibt auch ein spannendes Webinar zu Routinen für motivierende Meetings in unserem Archiv zum nachschauen.

4. Säule: Klare Kommunikation über die genutzten Kommunikationskanäle führen

Das “Zauberwort” für eine gute Kommunikation im Team ist und bleibt Transparenz! Wichtig dabei ist vor allem, diese nicht nur zu benennen und als wichtig einzustufen, sondern sie auch wirklich zu leben. Damit das gelingen kann, müssen geteilte Informationen von allen Teammitgliedern empfangen und gelesen werden können. Damit das nicht in einer Kommunikationskanäle-Flut ausartet und wir dann wieder bei Annahme 1 wären sowie das Resultat daraus, schwindende Motivation und das Scheitern des Projekts vor uns läge, brauchen wir zuallererst eine klare Übersicht über alle unsere Kommunikationsformen.

Welche Tools oder Programme  euch liegen und ihr für wertvoll erachtet, ist dabei erst einmal von einer nicht so großen Bedeutung. Wichtig ist, dass alle Teammitglieder die vereinbarten Kommunikationskanäle nutzen können. Besprecht Euch im Vorfeld für welche Aufgabenbereiche und Projektentwicklungsschritte ihr welches Tool benötigt. Anschließend legt ihr euch auf einzelne, sinnvolle Tools fest. 

Bei Systaimability starteten wir mit einer Slack-Gruppe, mit einem Miro-Board, mit einem Trello-Board, mit einem geteilten Google docs-Ordner, mit einem Hootsuite-Account für alle Social Media Plattformen, mit einem Canva-Account für die Gestaltung von Logo, Posts und Präsentationen, mit einem Linktr.ee-Account und mit einem Zoom-Account. 

Nach beinahe einem halben Jahr haben wir bei unseren Kommunikationskanälen etwas aufgeräumt. Wir haben uns auf diese beschränkt, die uns wirklich im Organisationsalltag geholfen haben. 

Mit diesen Kanälen arbeiten wir weiterhin: 
Und mit diesen Kanälen arbeiten wir zur Zeit nicht mehr: 
  • Trello (wurde ersetzt durch funktionierende Listen auf Google docs)
  • Hootsuite (wurde ersetzt durch das Festlegen von einzelnen Zuständigkeiten für einzelne Social Media-Kanäle) 

Diese Learnings könnt ihr nur durch Ausprobieren und einfach “Machen” erfahren. Sozusagen “trial and error”! Wenn ihr dann immer wieder evaluiert, ob alle Eure Teammitglieder mitgenommen werden, sich die Informationsflut zu bewältigen lässt und ihr damit die größtmögliche Transparenz im Team herstellen könnt, dann steht der Errichtung eurer Säule 4 nichts mehr im Wege. 

5. Säule: Bewusste Zeiten der Nichterreichbarkeit und “digital detox” einführen

Um die fünfte und letzte Säule Eurer digitalen Organisation zu errichten, könnt ihr Euch wieder an der ersten Säule orientieren. Hier war die Annahme, dass jede*r von uns im digitalen Raum der Projektumsetzung immer erreichbar ist und sein sollte. Natürlich wissen wir, dass das nicht umsetzbar ist und dass auch Pausen unglaublich wichtig für den gemeinsamen und kreativen Erfolg eines Projekts sind. Denn eine fortwährende Überlastung und eine ungesteuerte Informationsflut auf die Teammitglieder führt zwangsläufig zu einem Rückgang von Motivation und Tatendrang bei der Umsetzung. Folglich scheitert das gesamte Vorhaben durch diese Reizüberflutung schon in den ersten Wochen und Monaten einer Organisationsgründung oder Projektumsetzung. 

Auch wir bei Systaimability haben am Anfang diese selbstgemachte Informationsflut abbekommen. Damit haben wir vorerst bei der Umsetzung unseres ersten Meetups viel erreicht. Danach brach jedoch die Motivation ein und alle waren dementsprechend platt und energielos. 

Unser Learning daraus war definitiv, als Teammitglieder frei zu äußern, wann wir eine Pause oder Zeiten der Nichterreichbarkeit brauchen. Mittlerweile klappt das so gut, dass jede*r über seine eigenen Pausen aufklärt und wir im Allgemeinen das Wochenende zur online-freien Zone mit Familie und Freunden erklären. 

Hier könnt ihr natürlich frei und kreativ entscheiden, wie ihr das handhaben wollt und wie lange ihr bei Eurem Arbeitspensum und besonderen Dringlichkeiten ein “digital detox” im Team anlegen wollt. Wichtig ist zu beachten, dass gerade kreative Prozesse und vor allem Denkprozesse nur dann entstehen können, wenn auch bewusst “Freizeit” eingeplant wird. Vor allem im digitalen Projektraum! Wir ihr wisst, können euch neue, innovative Ideen schließlich überall ereilen.

Mein Fazit für eure Organisation

Was ist wichtig für eine digitale Organisation in der Pandemie? 

Für den Aufbau einer digitalen Organisation in einer solchen Krise ist es wichtig, zu wissen, dass wir die analoge Organisationswelt und Projektentwicklung nicht 1:1 in den digitalen Raum übersetzen können. Wir müssen nicht nur darauf achten, gut und transparent miteinander vernetzt zu sein, sondern uns auch immer wieder daran erinnern, auch im digitalen Raum, das Zwischenmenschliche und ein gegenseitiges Verständnis für die jeweilige Situation unseres Gegenübers zuzulassen.

Welche Haltung nehmen wir als Organisation im digitalen Raum ein? 

Ich plädiere für ein verständnisvolles und wertschätzendes Miteinander sowie für eine freie Arbeitszeitgestaltung, in der jede*r einzelne seine volle Arbeitskraft erbringen und entfalten sowie das Team dadurch zum Erfolg führen kann. Auch die Art und Weise wie wir Online-Meetings sowie Calls planen und uns an die vereinbarten Zeiten halten, ist eine wichtige Form des gegenseitigen Respekts und der Wertschätzung. Damit auch im digitalen Raum der persönliche Austausch bei all dem gewünschten “Timeboxing” nicht abhanden kommt, sollten ganz bewusst, Zeiten und Räume des freien Denkens eingerichtet werden. Das hat auch einen großen Einfluss auf das Teambuilding. 

Zu diesen genannten Punkten kommen dann noch als weitere Zutat Wertschätzung und Interesse an der jeweiligen Situation des*r einzelnen sowie eine ordentliche Portion gut kommunizierte Transparenz bei den ausgewählten Kommunikationskanälen.

Wenn ihr diese Punkte beachtet und Euch darüber im Klaren seid, dass es auch im digitalen Raum “Feierabend” mit online-freien Zeiten geben muss, könnt ihr als digitale Organisation voll durchstarten. Ich wünsche Euch viel Erfolg bei der Umsetzung und hoffe, dass Euch diese fünf Säulen dabei helfen.

Über Felicitas Heger 

Systemische Organisationsentwicklerin, Nachhaltigkeitsmanagerin und Coach. Gründerin von thefemalevoice.de. Felicitas Heger beschäftigt sich mit der Stärkung von Frauen in Teams und Führungspositionen durch die Verbindung von Coaching und Stimme zur aktiven Benennung der eigenen Ressourcen. Außerdem hat sie viele Jahre im gemeinnützigen und kulturellen Sektor als Projektleiterin und Organisationsentwicklerin gearbeitet. Noch immer beschäftigt sie sich auch mit der Frage nach Lösungsansätzen für mehr gesellschaftlichen und sozialen  Zusammenhalt sowie  einem stärkeren Strukturaufbau in kleineren bis mittelgroßen Städten.

Über Systaimability

Systaimability will auf die Herausforderungen unserer Zeit aufmerksam machen, innovative Systeme miteinander vernetzen, die unterschiedlichen, interdisziplinären Felder der Nachhaltigkeit sichtbar machen und damit zum Handeln inspirieren. Abseits der Veranstaltungen (Online-Meetups) ist das Ziel, eine wachsende Community aufzubauen, die kontinuierlich miteinander interagiert, diskutiert und gemeinsam Lösungen entwickelt.

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